Auszug aus dem Schlußwort des Angeklagten Bordiga

[...]

Wir haben zu einer objektiven Diskussion des Falles beigetragen, ohne uns darum zu kümmern, wie Ihr Urteil ausfallen wird. Wir befinden uns, wegen der geringen Substanz der Anklage und anderer bekannter Umstände, in einer geradezu banalen Lage; und ich habe nicht um das Wort gebeten, um eine melodramatische Haltung einzunehmen, um als Märtyrer zu erscheinen, um »Reklame« für uns selbst zu machen. Wir glauben nicht, daß Märtyrer a priori das Recht auf ihrer Seite haben.

Tatsächlich leugnen wir, daß es jenseits der sozialen und politischen Trennungslinie Punkte der Verständigung, übereinstimmende höhere Wertungen geben kann; wir flüchten uns nicht in den Gedanken, den irgendein Anwalt der Verteidigung angeführt hat und der gewöhnlich bei politischen Prozessen auftaucht: den Gedanken, daß die Geschichte in letzter Instanz ihr Urteil spreche und den wegen seiner politischen Oberzeugung Verurteilten jedesmal freispreche. Nein, meine Herren! Es trifft zwar zu, daß die Geschichte in letzter Instanz über alle unsere Taten richtet, aber die Geschichte könnte auch jene Richter, die in einem politischen Prozeß auf Freispruch erkennen, ungünstig beurteilen. Wir akzeptieren nicht die Meinung, daß man im Namen immanenter, absoluter Prinzipien jeden militanten Politiker, der vor Gericht steht, freisprechen muß.

Wenn wahr ist, woran wir mit wissenschaftlicher Sicherheit glauben, daß nämlich unsere programmatischen Perspektiven - nicht weil sie dem Haupt eines Gottes oder dem Haupt eines Helden entsprungene Ideen wären oder aus transzendenten Gründen in den Köpfen der Menschen wohnten, sondern weil sie mobilisierende Kraft haben und Energien freisetzen, die mit Sicherheit in der Entwicklung der historischen Realität zum Durchbruch kommen-: wenn sie wirklich die Zukunft der Gesellschaft darstellen, dann sind wir überzeugt, daß diese unsere Linie aller Verfolgung und jedem Urteil zum Trotz triumphieren muß. Wenn es dagegen wahr wäre, was heute unsere triumphierenden Feinde glauben, daß nämlich sie es sind, die den Schlüssel der Zukunft in ihren Händen halten und daß wir nicht nur materiell besiegt, sondern auch von der Eroberung der Geschichte von morgen ausgeschlossen wären, dann hätten Sie tatsächlich verblendete Schiffbrüchige vor sich, und keine Nachwelt könnte uns von diesem Urteil freisprechen.

Aber wir wissen, daß dies nicht die Zukunft ist; wir wissen, daß unsere Theorie auf festen Füßen steht und daß wir mit unseren Aktionen die Möglichkeiten zur Revanche finden werden; und nur deswegen, nicht im Namen der Gedankenfreiheit, nicht im Namen jener bürgerlich-demokratischen Lehre, die wir für ebenso falsch halten wie die Anklage, behaupten wir, daß unsere Verurteilung den künftigen Sieg unserer Partei nicht verhindern wird.

Wir glauben nicht an die Funktion von Märtyrern, Helden und »Eliten«. Wir fühlen uns als Vertreter einer politischen Partei, die die historische Mission der Arbeiterklasse erfüllen wird. Wir fühlen uns als Exponenten des Proletariats im unausweichlichen Konflikt zwischen den antagonistischen Klassen. Wir sind Werkzeuge, die diesem Kollektiv dienen. Man hat gedroht, uns das Rückgrat zu brechen: Wir werden, so gut wir können, Widerstand leisten, aber wir wissen nicht, was aus uns werden wird. Auch ein festes Werkzeug kann zerbrechen. Wir könnten uns vielleicht, was uns selbst betrifft, bequemere Verhältnisse vorstellen, aber das hat keine Bedeutung. Wichtig ist das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen uns und unseren Gegnern. In diesem Augenblick sind wir die Besiegten und Unterlegenen. Es kann sich für uns nicht darum handeln, mit den Abstraktionen eines leeren Liberalismus unser ideelles Recht auf Schonung zu verfechten: es genügt uns, ohne Übertreibung zu sagen, daß wir, heute frei oder später, weiterarbeiten werden, um die tatsächlichen, heute für uns ungünstigen Verhältnisse zu ändern und sie eines Tages umzukehren.

Source Lo Stato Operaio n. 11 november 1923
Author Amadeo Bordiga
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