Fortsetzung der Diskussion über die Gewerkschaftsfrage

Neunundzwanzigste Sitzung des 5. Weltkongresses der KI am 7. Juli 1924

BORDIGA: Genossen! Ich hatte die Absicht, hier nur eine kurze Erklärung abzugeben, aber die Rede des Genossen Semard zwingt mich, etwas näher auf die äußerst delikate Frage der internationalen Einheit einzugehen.
Vor allem möchte ich mit aller Bestimmtheit und Eindeutigkeit erklären, daß die Linke der italienischen Kommunistischen Partei sich von jeher gegen die Taktik gewendet hat, die den Austritt aus den reformistischen Gewerkschaften verlangt. Wir sind in Italien in dieser Hinsicht auf keine sehr erheblichen Schwierigkeiten gestoßen. Die Probleme, die heute in bezug auf den Wiederaufbau der Gewerkschaften vor uns stehen, sind schwieriger das Problem der Sabotage von seiten der reformistischen Führer.

Wir haben uns immer mit aller Energie gegen die, übrigens wenig belangreichen Tendenzen zum Austritt der unabhängigen, auf seiten der Kommunistischen Partei stehenden Gewerkschaften aus dem reformistischen Gewerkschaftsbund gewandt. In einigen Fällen ist es uns auch durch unsere Agitation und die Kampagnen, die wir führten, gelungen, die gelben Gewerkschaften zur Zurücknahme der Ausschlüsse, die wegen Zellenarbeit und kommunistischer Propaganda über unsere kommunistischen Genossen verhängt worden waren, zu zwingen.

Nach dieser Feststellung komme ich zur Polemik gegen das, was Genosse Semard ausführte.

Was er Tatsächliches vorgebracht hat, beschränkt sich auf ein Argument, das vielleicht vom polemischen Standpunkt aus wirksam sein mag, das jedoch durchaus nicht stichhaltig ist. Er führte ungefähr aus:

Vor dem Kongreß steht eine neue Frage: die Frage der internationalen Einheit.

Bordiga ist dagegen; dieses Argument muß den ganzen Kongreß davon überzeugen, daß er für die internationale Einheit sein muß.

Das hat Semard gesagt, bevor wir überhaupt zu diesem Problem Stellung genommen hatten. Er hat unsere angebliche Ansicht über diese Frage konstruiert aus Ansichten, die wir in andern Fragen äußerten, und die er übrigens wie gewöhnlich unrichtig wiedergegeben hat.

Semard sagt uns: Ihr tretet in Italien für die Einheitsfront nur ein, soweit die Gewerkschaften in Betracht kommen, nicht für die Einheitsfront der Parteien, d. h. ihr trennt eure Partei in zwei Gruppen: eine Gruppe, die das Recht hat, die Einheitsfront zu machen, weil sie gewerkschaftlich ist, und eine andere Gruppe, die dieses Recht nicht hat, die nicht befugt ist, die Taktik der Einheitsfront auszunutzen, weil sie nicht gewerkschaftlich ist.

Genosse Semard gibt damit unsern Standpunkt nicht ganz richtig wieder, denn auch für die politischen Organisationen, soweit es sich nicht um Parteien handelt, schließen wir die Einheitsfront nicht aus. Ich werde das näher erläutern, wenn über die Taktik verhandelt wird.

Aber abgesehen davon stelle ich fest, daß zwei derartige Gruppen in der italienischen Partei so wenig wie in irgendeiner wirklich bolschewistischen Partei existieren und existieren können. Bei uns arbeitet jedes Parteimitglied gewerkschaftlich. Auch ich bin - Genosse Semard möge es gestatten - immer aus meiner ,,Vereinsamung« herausgetreten, um mich mit den Gewerkschaftsfragen zu befassen, um an der Gewerkschaftsbewegung, an Streiks usw. aktiv teilzunehmen!

Das Argument des Genossen Semard wendet sich gegen ihn selbst und beweist uns, daß selbst die besten Genossen der französischen Partei noch das Opfer antimarxistischer Vorurteile sind, soweit die Gewerkschaftsfrage in Betracht kommt. Sie bilden sich ein, daß die Parteimitglieder, die keine Handarbeiter sind, die nicht in der Werkstatt arbeiten, sich nicht mit der Gewerkschaftsfrage befassen dürfen, und daß sie in dieser Frage weder mitarbeiten noch eine eigene Meinung haben können. Das beweist uns, daß in unserer französischen Bruderpartei das alte Vorurteil, der Fetischismus der Unabhängigkeit der Gewerkschaften gegenüber der Partei, noch sehr stark ist, und daß man meint, höchstens diejenigen Parteimitglieder, die Handarbeiter und Proletarier sind, könnten sich mit der Gewerkschaftsarbeit befassen; die übrige Partei müsse eine rein politische Organisation bleiben. Damit wird sie aber zu einer Organisation in sozialdemokratischem Sinne, im Sinne der parlamentarischen Politik!

Wir behaupten im Gegenteil, daß eine marxistische Partei ihre Gewerkschaftspolitik haben muß, daß eine solche Partei - wie die italienische Partei es tut - sich bis zum letzten ihrer Mitglieder einschließlich aller derer, die keine Handarbeiter sind, mit der Gewerkschaftsfrage befassen muß. Übrigens ist es gerade die italienische Partei, die den geringsten Prozentsatz von Mitgliedern, die keine Handarbeiter oder Bauern sind, aufweist. Deshalb ist das Argument des Genossen Semard vollständig hinfällig.

SEMARD: Du legst mir das Gegenteil dessen in den Mund, was ich gesagt habe.

BORDIGA: Du hast ausdrücklich gesagt, daß auf Grund unserer Taktik die Partei sich in zwei verschiedene Gruppen teilen müsse.

SEMARD: Ich habe gesagt, daß sie sich nicht teilen müsse!

BORDIGA: Du hast gesagt, daß sie sich nicht teilen müsse, aber daß diese Teilung die notwendige Folge der logischen Anwendung unserer Taktik wäre. Das beweist, daß du von völlig falschen Voraussetzungen ausgehst.
Was den Kern des Problems betrifft, hat Genosse Semard das folgende ausgeführt: Da ihr für die Einheitsfront auf taktischem Gebiete seid, so müßte ihr auch für die Einheit auf organisatorischem Gebiete sein.
Das sind aber zwei völlig verschiedene Dinge.

Das Problem der gewerkschaftlichen Einheit auf nationalem Gebiet, innerhalb der Landeszentralen, hat schon lange bestanden, bevor die Internationale sich mit der Taktik der Einheitsfront zu befassen begann.

So haben wir z. B. in Italien seit der Gründung der Partei mit der Agitation für die organisatorische Verschmelzung aller bestehenden gewerkschaftlichen Landeszentralen begonnen. Gerade unsere Partei war es, die gegen die bestehende Zersplitterung des italienischen Proletariats in verschiedene Gewerkschaftszentralen gekämpft hat. Unsere Partei ist die einzige Partei Italiens, die nicht eine besondere Gewerkschaftszentrale zu ihrem Privatgebrauch konstruiert hat, die im Gegenteil in sämtlichen bestehenden Gewerkschaftsorganisationen der andern Parteien gearbeitet hat, um sie organisatorisch zu einer einzigen Zentrale zusammenzufassen.

Bei der ,,Einheitsfront« handelt es sich um ein ganz anderes Problem: nämlich um das Problem der gemeinsamen Aktion resp. um den Vorschlag gemeinsamer Aktionen der verschiedenen proletarischen Organisationen innerhalb eines gegebenen Zeitraumes. In Italien haben wir bereits sechs Monate nach Gründung der Partei die Parole der gewerkschaftlichen Einheitsfront ausgegeben, die dann in der ,,Allianza del Lavoro« eine gewisse Verwirklichung fand. Ich führe dies nur an, um den Unterschied zwischen den beiden Fragen aufzuzeigen. Für näheres Eingehen auf die Einzelheiten fehlt die Zeit, trotzdem diese Einzelheiten von größter Bedeutung sind.

Man kann nicht hierherkommen und uns vor die Alternative stellen: Wenn ihr die Einheitsfront annehmt, so müßt ihr auch die Einheit annehmen. Auf Grund dieses Arguments müßten auch diejenigen Genossen, die für die Einheitsfront der politischen Parteien eintreten, gleichzeitig die organisatorische Einheit der politischen Parteien verteidigen! Das ist genau dasselbe! Solche Schlüsse kann man ziehen... [Zwischenrufe, Gelächter.] In Wirklichkeit sind diese beiden Probleme durchaus verschieden. Sie müssen völlig unabhängig voneinander diskutiert werden. Auch das zweite Argument des Genossen Semard ist also in keiner Weise stichhaltig. [Protest aus den Reihen der französischen Delegation.]

Was die Frage der Verschmelzung der RGI mit der Amsterdamer Internationale anbetrifft, so will ich mich darauf beschränken, hier einen einzigen Punkt zu erwähnen, nämlich daß ein solcher Beschluß einzig und allein vom Kongreß der Kommunistischen Internationale selbst gefaßt werden kann. Wenn man auf dem Kongreß über diese Frage keine Entscheidung fällen will, so kann man die Beschlußfassung über diese so außerordentlich wichtige Angelegenheit keinesfalls der RGI, der Erweiterten Exekutive oder einer besonderen Kommission überlassen. Wird dagegen die Frage hier auf dem Kongreß diskutiert, so werden wir selbstverständlich gegen diesen Plan auftreten, dessen Zweck es ist, die beiden bestehenden internationalen Gewerkschaftsorganisationen zu verschmelzen.

Ich beschränke mich darauf, hier einen der Gründe für unsere Stellungnahme anzuführen: Die Vorbedingungen, die ihr stellen wollt, sind vielleicht in praktischer Hinsicht ausreichend, aber auf ihrer Grundlage wird die Einheit nicht zustande kommen, denn sie sind derart, daß ihre Ablehnung von seiten Amsterdams mit Sicherheit vorausgesehen werden kann.

Ihr erwidert: Um so besser, dann haben wir diesen Vorschlag gemacht, und Amsterdam lehnt ihn ab - eine Tatsache, die sich bereits mehrfach wiederholt hat. Die reformistischen Arbeiter werden daraus erkennen, daß wir die Einheit wollen.

In diesem Fall, d. h. wenn ein derartiger Vorschlag unsererseits durch die Amsterdamer abgelehnt worden ist, wird jedoch der Eindruck dieses Vorgangs auf die Arbeitermassen der folgende sein: Man wird meinen, daß unserer eigenen Ansicht nach unsere Gewerkschaftsorganisation kein festes Fundament hat, daß wir den Versuch gemacht haben, sie zu liquidieren, und daß diese Liquidation nur wegen der Ablehnung Amsterdams nicht vollzogen worden ist. Das wird unsere Tätigkeit sehr erschweren.

Wird andererseits die internationale Einheit verwirklicht, so werden wir neben der Internationale nichts weiter als ein Propagandabureau für die Arbeit in den Gewerkschaften haben, ein Propagandabureau nach dem Muster jener ,,Gewerkschaftskommissionen« der französischen Partei, die niemals wirklich marxistische Arbeit geleistet haben, die niemals etwas anderes als ,,Bureaus« gewesen sind, denen es niemals gelungen ist, auch nur die geringste direkte energische Aktion der Partei auf wirtschaftlichem und gewerkschaftlichem Gebiete zu verwirklichen.

Dann wird tatsächlich unsere Internationale nicht viel mehr sein als eine politische Sekte, als eine Bewegung, die sich mit ideologischer Propaganda begnügt, die es nicht versteht, direkt und aktiv in die wirtschaftlichen Kämpfe der Massen einzugreifen.

Aus diesem Grunde sind wir gegen derartige Vorschläge, mögen sie nun dazu bestimmt sein, angenommen zu werden oder nicht.

Hinzu kommt noch folgendes:

Man spricht hier sehr viel von der Amsterdamer Linken. Man sagte: Diese Linke muß kritisiert werden, sie weist Schwankungen auf; aber dessenungeachtet handelt es sich um eine wichtige Tatsache, der man Rechnung tragen muß.

Unserer Ansicht nach enthüllt dagegen dieser Vorschlag zur Wiederherstellung der gewerkschaftlichen Einheit die Tatsache, daß in Wirklichkeit bei uns eine ausgesprochen rechte politische Tendenz existiert, die dieser Kongreß erkennen sollte, und die jedenfalls die Internationale nach dem Kongreß erkennen wird. In bezug auf die Taktik der Einheitsfront sagt man, daß die Illusion einer möglichen Koalition zwischen den Kommunisten und der sozialdemokratischen Linken liquidiert werden muß. Man unterstreicht die Tatsache, daß die Unterschiede zwischen den rechten und den linken Sozialdemokraten übertrieben worden sind, daß man sich getäuscht und Illusionen hingegeben hat dadurch, daß man die Bedeutung dieser Unterschiede überschätzt hat. Dagegen sagt man uns in bezug auf eine so wichtige Frage, wie es die Frage der Existenz der Roten Gewerkschaftsinternationale selbst ist, die doch nun einmal existiert, und die in allen Ländern die entscheidende Parole der Kommunisten in den gewerkschaftlichen Kämpfen abgegeben hat: Weil innerhalb der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratie, innerhalb der gelben Gewerkschaften, eine Linke existiert, muß man sich sofort auf diese Linke stürzen und muß versuchen, zu einer gemeinsamen Taktik mit ihr zu kommen; man muß die fundamentale Tatsache anerkennen, daß wir für die Taktik der Einheit sind, und daß diese Linke es auch ist.

Unserer Ansicht nach zeigt ein derartiger Vorschlag die Gefahren auf, die in der Anwendung einer Taktik liegen, gegen die wir energischen Protest erheben müssen.

Auf dem 4. Kongreß haben wir uns aus prinzipiellen Gründen - was die Frage der Beziehungen zwischen den politischen und wirtschaftlichen Organisationen des Proletariats betrifft - einer Konzession widersetzt, die man den revolutionären Gewerkschaftern machte, als man die Statuten der RGI ändern und auf die organische Verbindung zwischen der Komintern und der Roten Gewerkschaftsinternationale verzichten wollte. Das war meiner Ansicht nach eine vom marxistischen Standpunkt aus entscheidend wichtige Frage.

Als man diese Konzession machte, habe ich ausgeführt: Diese Konzession wird notwendigerweise zu weiteren Konzessionen in der Gewerkschaftsfrage führen. Wie man heute der Linken, den anarcho-syndikalistischen Tendenzen diese schwerwiegende Konzession macht, so wird man morgen den rechten Gewerkschaftern, jener gewerkschaftlichen Richtung, die unter den beiden verschiedenen Formen der Linken und Rechten nur das gleiche, immer wiederkehrende antimarxistische Hindernis auf unserm Wege darstellt, Konzessionen machen müssen. Das deutlichste Beispiel dieser Tendenz gibt uns bis heute eben die französische Partei. Um diese Gefahr zu vermeiden, darf die Gewerkschaftsfrage nicht so behandelt werden, daß das Eingreifen der Kommunisten und der Revolutionäre in die wirtschaftlichen Kämpfe und Organisationen der Arbeiterschaft dadurch abgeschwächt und verschleiert wird.

Deshalb zwingt uns die Rede des Genossen Semard, der uns direkt angegriffen hat, gegen den Vorschlag, der in bezug auf die RGI gemacht worden ist, Stellung zu nehmen und noch einmal festzustellen, daß es gerade die französische Partei ist, die mit Hilfe der übrigen Sektionen der Kommunistischen Internationale mehr und mehr dazu angetrieben.. werden muß, die marxistische Taktik des direkten und unerschrockenen Eingreifens in die Kämpfe der Massen zu befolgen. [Beifall.]

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Author Amadeo Bordiga
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